Sonntag, 21. Februar 2010

Beitrag im CVJM-Heft

einatmen und ausatmen...

...; Hunger haben und satt sein; festhalten und loslassen,
ein jegliches hat seine Zeit.
Im Optimalfall ist das Verhältnis einigermaßen ausgeglichen.

Da ich ein eher rationaler Mensch bin, fällt mir die Theorie über AUFRÄUMEN nicht schwer. Aus dem Stegreif könnte ich spontan 60 Minuten referieren. Zur Theorie.

Die Praxis hat einige Haken. Natürlich weiß jeder, dass von einer gewissen äußeren Ordnung auch die innere kommt und dass Kruschd viel Platz, Nerven und Geld kostet. Auch fühlt man sich in offeneren Räumen wohler, die Luft ist besser, Energie fließt usw.

Was mich vom Aufräumen und Entmüllen abhält ist sicher individuell. Bequemlichkeit könnte ein Grund sein, wenig Zeit, die Anderen helfen nicht mit, Entscheidungsschwäche, Antriebslosigkeit, bei Anderen sieht es schlimmer aus, morgen fange ich an, das ist mir einfach zu viel... und wer viel Platz und ein gutes Organisationstalent hat, kann viel mehr aufbewahren als andere, muss weniger entmüllen.

In den letzten zwei Jahren bin ich zweimal umgezogen. Beim ersten Mal von 300m² auf 105m², und schließlich auf 65m² mit Dachschräge. Das ist nicht ganz freiwillig passiert und das Aufräumen auch nicht. "Mich" bei jedem Umzug zu halbieren, war emotional ziemlich stressig. Gerade, wenn man an Erinnerungen und Sicherheit festhalten will, soll am darauf verzichten? Wo sind meine Prioritäten? Werde ich diese Entscheidungen bereuen?

Von einigen Dingen konnte ich mich nicht so leicht trennen, sie wanderten in 25 Umzugskartons in Garage und Keller. Vorwiegend Bücher, alte Ordner, technische Geräte, Dekoartikel und Erinnerungen befanden sich darin. Richtig: Präteritum von befinden. Der Vorgang des Aufräumens ist erfolgt. Abgeschlossen.

Zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich angegriffen, in dem ich in kleinen Schritten systematisch vorgegangen bin. In vier leere Kisten kamen Dinge zum Wegwerfen, Dinge zum Reparieren, Dinge zum Weitergeben/Verschenken/Zurückgeben und schließlich die Kiste zum später Entscheiden.

Alles andere wurde gleich ins Regal oder den Schrank gestellt, Zwischenablagen waren nicht erlaubt. Die ersten Stunden waren schlimm, aber das Durchhalten lohnte sich. Wegwerfen fiel mir mit der Zeit immer leichter. In die Kategorie reparieren kam nichts, weitergeben/verschenken habe ich umgehend erledigt und eine Kiste mit Datum 30.12.10 steht noch unten (was bis dahin nicht gebraucht wurde, kommt unbesehen weg).

So eine Aufräumaktion macht allerdings vor nichts Halt, man überdenkt dabei unter anderem auch den Medienkonsum, das Verhältnis zu unnützen Postwurfsendungen, bestehende Abos und Mitgliedschaften und schließlich auch energieraubende schwierige Beziehungen.

Nun bin ich äußerlich wie innerlich frisch aufgeräumt. Das ist doch eine Belohnung wert!
Allerdings nichts, was man rumstellt...

morbus alzheimer

Diese Woche hatte ich Gelegenheit, Studien über morbus alzheimer zu betreiben. Ich war drei Tage in der Augenklinik und hatte eine Mitpatientin mit besagter Diagnose.
Frau J. weiß nicht genau, wie alt sie ist, erinnert sich aber an Jahrgang 35. In den ersten 20 Minuten fällt mir ihr "Problem" nicht auf, so geht es auch Anderen, Schwestern, Besucher, usw. lassen sich durch ihre Fragen und Behauptungen schnell aus der Fassung bringen und geraten zunehmend in Verwirrung.
Ihr Sohn klärt mich auf und ab sofort habe ich einen neuen Job: Aufpasser.

Schade
finde ich, dass ich diese patente Frau nicht zu Zeiten kennengelernt habe, als ihr Inneres und ihr Äußeres noch übereinstimmten. Sie tritt kompetent auf, spricht hochdeutsch und kann sich gewählt ausdrücken. Ihre aufrechte Haltung und ihre Garderobe verraten mir, dass sie es im Leben weit gebracht hat. Aus den vielen kleinen Geschichten ergibt sich ein Bild: in Stettin geboren, geflüchtet nach Rostock, als Teenager alleine geflüchtet nach HH, lange in Dortmund gelebt, Familie gehabt und berufstätig gewesen. Hier bricht ihre Geschichte ab, nur der Sohn kann weiterhelfen: sie lebt in der Nähe von Remchingen in einem Altersheim.

Keine Chance
haben Neuinformationen, sie sind sofort weg. Innerhalb von 30 Minuten fragt sie den Sohn 20x, ob er mit dem Auto da ist und ob er sie mitnimmt. Auch Orientierung kann man vergessen. Sie kruschtelt viele Stunden am Tag in allen Schränken, auch meinem, und weiß nicht, was sie sucht oder will. Bis entsprechende Beschriftungen angebracht sind, kann sie sich auch nicht merken, welches ihr Bett ist. Sie weiß auch drei Tage lang nicht, wann sie operiert wird, obwohl sie einen Augenverband hat (also die OP schon vorbei ist).

Hunger
hat sie nie. Egal, welche Mahlzeit serviert wird, sie kann einfach nichts essen. Der Sohn zwingt ihr jeweils etwas auf und isst die Reste. Auch Durst empfindet sie nicht.



Unruhe
wirkt sich sehr ungünstig aus. Als an Tag drei noch eine Patientin kommt (mit Demenz) dreht sie erst auf, dann durch. Die vielen unbekannten Menschen, die die Schränke durchsuchen und neue Utensilien aufstellen, die Stühle belegen und schnell reden, bringen sie an den Rand des Erträglichen. Ihre Fragen und Behauptungen werden von den "Neuen" zuerst ernstgenommen, dann sind sie lästig und schließlich sind alle verwirrt. Frau J. ist in ihrer Zeitschiene heftig umher gesprungen und befindet sich nun in einem Flüchtlingslager. Sie findet die Einquartierung eine Zumutung und ärgert sich über Ungerechtigkeit und Willkür. Die neue Patientin und ihre Besucher sind schockiert. Darf man das Wort Alzheimer in diesem Moment aussprechen?



Gefühle

sind ganz viele abrufbar. Stolz habe ich gesehen, Dankbarkeit, Traurigkeit, auch Freude, Verzweiflung, Angst, Wut. Je näher wir an heute kommen, desto mehr Aggression und Wut kommen auf. Abends kommt es zu einem Gespräch zwischen den beiden Ladies, die sich über ihre Söhne ärgern. Gerade sind beide Familien gegangen, aber die Damen haben es vergessen. Sie haben ihren Kindern alles Mögliche geboten, dafür selbst viele Opfer gebracht und nun haben die undankbaren Kinder keine Zeit für sie. Beide bringen sich richtig in Rage, ich mische mich nicht ein. Nach einer Minute Gesprächspause haben beide das Thema vergessen. Dafür weiß ich nun, warum die Schwiegertochter Andrea enterbt ist.



Angehörige

haben einen schweren Stand. Zum einen ist es sehr anstrengend, sich selbst zu beschäftigen und dabei die Mutti nicht zu überreizen; genügend präsent zu sein und die eigenen Bedürfnisse nicht vergessen. Zum anderen werden in vielen unbedachten Momenten Familieninterna ausgeplaudert, man wird zum Teil bloßgestellt.


Fazit:
morbus alzheimer ist eine schlimme Krankheit, die mir und anderen das Leben sehr schwer macht. Es werden im Laufe der Zeit alle Ressourcen vollständig aufgebraucht: Kraft, Geduld, gute Beziehung, Geld, Respekt...
Sie ist nicht heilbar und noch lange nicht abschließend erforscht.

In einem Bericht finde ich den Hinweis: eine wenig geistig anspruchsvolle Tätigkeit zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr erhöht die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, sehr.

Ich werde deshalb meinen Hirnstoffwechsel ankurbeln und lernen, lernen, lernen...